Aargauer Schulblatt 3
Achtung Spoiler - wer das Buch noch nicht gelesen hat soll den Text noch nicht lesen!
Schulblatt AG/SO · 3/2020
Nenn mich nicht Grossmutter
«Aaron Goldberg war kein Jude. Diese Tatsache
hatte bis zum dem Tag, als er ins
Internat eintreten musste, auf sein Leben
keinen Einfluss gehabt. (...) Deshalb überraschten
ihn die dunklen Wolken, die
plötzlich in seinem Leben aufzogen und
ihn völlig unvorbereitet trafen, umso
mehr» – die Geschichte von Annie und
ihrem Enkel Aaron ist nicht spektakulär,
es wird keiner umgebracht, es kommt
auch keine furchtbar traurige Liebe darin
vor, niemand vollbringt eine Heldentat.
Aber es ist auch die Geschichte von Unausgesprochenem
– die Geschichte einer
Grossmutter und ihres Enkels.
Strukturiert und rhythmisiert wird die
Erzählung durch Kapitel, die gleichzeitig
Jahresangaben sind – die Geschichte beginnt
1997 und endet 2009, zwei Jahre
nach dem Tod von Annie Goldberg. In
diesen Jahren lebt Aaron als Halbwaise –
der Vater Salomon Goldberg stirbt früh
beim Windsurfen – in einem Internat, wo
er erlebt, was Jungs in Internaten erleben:
Abenteuer, Freundschaften, aber auch
Schikanen. Diese sind teils alterstypische
Streiche, manchmal aber auch mehr: Immer
wieder wird er als «Saujude» beschimpft,
was er zumeist stoisch erträgt.
Die Internatsjahre sind aber auch diejenigen
Jahre, in denen er während der Ferien
und zunehmend auch an den Wochenenden
bei seiner Grossmutter lebt, da
seine Mutter als Schauspielerin ein eher
unstetes Leben führt. Nach und nach nähern
sich Enkel und Grossmutter an. Sie
teilen die Liebe für die Literatur, vor allem
für die Harry-Potter-Romane. Doch es
gibt auch etwas, das Aaron stört: «Aaron
stellte gerne Fragen und Annie gab ungern
Antwort.» Wieso dies so ist, erschliesst
sich der Leserin erst ganz am
Schluss des Romans, als Aaron nach Annies
Tod Briefe von «Margarete» findet,
die eine ganz andere Wahrheit belegen
als die erzählte: Die Grossmutter hatte als
junge Frau nicht die Hotelfachschule in
Lausanne absolviert, sondern ist eine
Überlebende des KZ Buchenwald.
Für Aaron ist diese Entdeckung ein
Weckruf. Die von Annie zu Lebzeiten geäusserten
Worte: «Antisemitismus wird
leider nie aussterben», ergänzt er für sich
mit der Antwort: «Nie wieder.»
Heute leben nicht mehr so viele Überlebende
des Holocausts. Umso wichtiger,
die Erinnerung daran wach zu halten. So
schrieb kürzlich auch das UVEK im Gedenken
an die Befreiung von Auschwitz
vor 75 Jahren anlässlich eines Treffens
von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga
mit Überlebenden des Holocausts:
Die meisten Menschen wüssten durch Zeitungsartikel,
durch Memoiren oder Ausstellungen
von der menschenverachtenden
Politik der Nazis und ihrer Mittäter. Sie
wüssten auch, dass Überlebende des Holocausts
in der Schweiz leben. Und doch
drohe deren Schicksal manchmal in Vergessenheit
zu geraten. «Nenn mich nicht
Grossmutter» thematisiert diese Schicksale
vor allem zwischen den Zeilen. Aber
die Geschichte lässt erahnen, wie Leid
sich im Ungesagten verbirgt.
Irene Schertenleib