Kein Wort zu viel (lieber eins zu wenig)

Meine Damen und Herren

 

Vielleicht haben Sie auch so eine Kindheitserinnerung: aus irgendeinem Grund – vielleicht weil er aus dem Nest gefallen ist, vielleicht ist es Ihr Kanarienvogel – haben Sie einen kleinen Vogel in der Hand. Sie spüren, wie lebendig er ist, Sie möchten Sorge zu ihm tragen, und wenn er dann wieder davonfliegt, ist es, wie wenn Sie an dieser Leichtigkeit und Beschwingtheit Anteil hätten, Sie fühlen sich erfüllt und beglückt, gestreift von etwas Seltenem und zugleich alltäglich Naheliegendem, das Sie aber so genau doch nicht begreifen.

 

So ungefähr ist es mir mit den kurzen Geschichten von Jona Ostfeld ergangen – und nicht nur, weil im Text vom „Wintergoldhähnchen“ ein solches Ereignis erzählt wird. Seine Geschichten sind von dieser beschwingten Leichtigkeit, von einem feinen Humor, von einem Charme und einer Eleganz, wie sie in der deutschsprachigen Literatur, die gern mit schwerem Tiefsinn aufwartet, ganz selten sind. Es sind Episoden aus einem Alltag, der uns vertraut ist, aber so, wie sie erzählt sind, gehen sie über alles Banale hinaus: sensibel, präzis, pointiert, kein Wort zuviel (lieber eines zu wenig).

Solche Gebilde könnte man, wenn man sie allzusehr belastet, wie den kleinen Vogel, zerdrücken. Ich will es also möglichst sorgfältig mit ihnen versuchen.

 

Das schmale blaue Bändchen vereinigt 16 Episoden aus dem Leben von Hermann W. Wer ist das?

Wir erfahren explizit und objektiv nicht sehr viel (Jona Ostfeld versichert übrigens, er sei es nicht!). Wir können sein ungefähres Alter – 35 – erschliessen, wissen, dass er in einem Büro arbeitet, erhalten etwas genauere Angaben über sein Hobby, die Ornithologie. Andere Informationen sind subjektiv und müssten erst geprüft werden. Aus einem Satz wie „Er wusste, dass er nicht anziehend auf Frauen wirkte“ dürfen wir als gesichert höchstens entnehmen, dass er nicht gerade viel Selbstvertrauen hat.

Das Büchlein fängt ja schon so an: „Hermann W. hatte noch nie mit einer Frau geschlafen“. Er ist der Kontaktscheue, der leicht rot wird und auch öfter Grund dazu hat, denn er hat ein Talent für Missgeschicke, dafür, in peinliche Situationen zu geraten. Seine Mutter, die ihn vom Altersheim her dominiert – sie ist mit noch weniger Strichen gezeichnet und doch rund und unverkennbar - , sie möchte, dass er sich endlich verheiratet und wirft ihm vor, dass er zu wenig in dieser Richtung tut, was ihn beleidigt, weil er eigentlich schon möchte...

Der Verlierertyp also, dem man die doppelte Männlichkeit seines Vornamens Hermann als Schutz gern gönnt. Aber stimmt das überhaupt? Wenn es zum Beispiel am Anfang der „Wintergoldhähnchen“-Geschichte heisst „Hermann W. hatte für Kinder nichts übrig“ und dann erzählt wird, mit wieviel Realitätssinn und Zartgefühl er mit den Kindern umgeht, die ihm den verletzten Vogel bringen, und wie er sogar einen seiner Zebrafinken opfert – dann sind wir gewarnt. Um die Wahrheit zu erfahren, dürfen wir uns nicht nur an den formulierten Text halten, wir müssen auch zwischen den Zeilen lesen. Es ist gerade einer der Vorzüge von Ostfelds Schreiben, dass wesentliche Elemente nicht behauptet und nicht zerredet, sondern insinuiert und sinnlich erfahrbar werden.

Und noch etwas: Auf den ersten Blick könnte dieser Hermann W. als stereotype Figur erscheinen, der „Herr Schüch“ oder so, aber das trifft gar nicht zu. Er entwickelt sich, er gewinnt zu seiner und unserer Überraschung an Format und Selbstvertrauen, er emanzipiert sich – auch was die Beziehung zu seiner Mutter betrifft. Und eben: so uninteressant für Frauen ist er gar nicht. Die hübsche Buchhändlerin überwacht gewissermassen seine Lektüre; die Zufallsbekanntschaft aus dem Bus passt sich seiner bevorzugten Farbe an – was ihn dann allerdings zu einer Fluchtreaktion treibt, über die Leser und Leserin noch lange rätseln und diskutieren werden.

 

Auch das ist eine Qualität dieser Texte: Ostfeld erlaubt sich offene Stellen, er will – und könnte, wie er mir gesagt hat – nicht alles erklären, einzelnes bleibt rätselhaft oder nur angedeutet (wie etwa der Schluss). Wie der Seidenlaubenvogel mit Zweigen und Stecken seine Laube aufbaut, so fügen sich die Erzählstriche nach und nach zu einem Umriss dieses Hermann W. Beim Ausmalen ist unsere Vorstellungskraft gefragt, wir Leser werden quasi zu Mitautoren, weil uns vieles bekannt vorkommt, als wär‘s ein Stück von uns.

 

16 Episoden à 4 oder 5 Seiten, sie sind so kurz, dass man immer wieder bedauert, dass es schon vorbei ist, und das gilt für das ganze Büchlein: wenn man am Ende angelangt ist, fängt man am besten wieder von vorne an. Die Geschichten sind – mit Ausnahme der letzten – weitgehend selbständig, in sich geschlossen und gekonnt pointiert – und doch bilden sie ein wohlkomponierten Ganzes, im Laufe dessen Hermann W. wie gesagt reifer wird – wenn nicht die Gefahr bestünde, dass uns der Vogel in der Hand zum Adler wird, könnte man fast von einem kleinen Entwicklungsroman sprechen.

Zum Gelingen dieser Ganzheit trägt manches bei. Etwa dass jede Episode mit einer Vogelart betitelt ist und im näheren oder weiteren Sinn auch damit und also mit dem Hobby Hermann W.s zu tun hat. Oder dass jede Episode mit einem knappen einleitenden Satz anfängt in der Art von „Hermann W. hasste Fitnesscenter“ oder „Hermann W. nahm sich vor, sich mehr vorzunehmen“ – Sätze, die uns gespannt mitten in die Geschichte und nicht selten auch hinters Licht führen. Und auch die genaue und sparsame Sprache trägt dazu bei, und wenn sie manchmal leicht umständlich daherkommt, dann muss das eben gerade so sein, weil ein Hermann W. so denkt und weil das Leben und die Welt überhaupt nicht so simpel sind. Und schliesslich gehört der subtile Humor dazu, die Präzision, mit der die Pointen am Schluss jeder Episode und am Ende des ganzen Buches gesetzt sind, und das Lachen, das auch thematisiert wird – einmal im Grölen der betrunkenen Klassenkameraden, dann in der Hermann W.schen Variante: „Er musste . . . fast lachen“ und dann als Beweis des gewonnenen Selbstvertrauens: „Du kannst ja über dich selbst lachen“.

 

Es stimmt alles in und an diesem schmalen Werk. Auch die zehn liebevoll skurrilen Zeichnungen stimmen, die Jona Ostfelds ehemaliger Schulkollege Fritz Huser beigesteuert hat. Und wer die erste Geschichte, die vom Seidenlaubenvogel, gelesen hat, weiss, dass eine andere Farbe als Blau für den Einband nicht in Frage käme.

Dass es den Seidenlaubenvogel und sein phänomenales Balzverhalten in Australien tatsächlich gibt, weiss ich erst seit dieser Lektüre. In der Laube, die er gebaut hat, sammelt er blaue und glänzende Gegenstände, um die Weibchen anzulocken.

Jona Ostfeld seinerseits breitet seine schriftstellerischen Glanzstücke vor uns aus, und ich bin sicher, dass Sie, meine Damen und Herren, sich werden verlocken lassen, eines dieser nur noch wenigen Büchlein aus der ersten Auflage oder zwei oder drei zu kaufen.

 

Uli Däster